Abstract
Insgesamt 152 Gesamteinspielungen von Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ (Stand 2018) durch 98 verschiedene Dirigenten erlauben einen äußerst differenzierten Blick auf die Interpretationsgeschichte dieses Werkes. Diesem Beitrag liegt eine quantitative Auswertung von insgesamt 96 Aufnahmen (Zeitraum 1936–2016) zugrunde, von denen 52 eingehender in Bezug auf die Interpretation der Form des gewichtigen Finalsatzes „Der Abschied“ betrachtet werden. Die Aufnahmen werden ausgehend von einer narrativen Analyse der Form des Satzes, die das Modell der „rotational form“ (Hepokoski/Darcy 2006) zugrunde legt und erweitert, zunächst im Sinne eines ‚distant listening‘ (Cook 2013) in Hinblick auf die Stellung des Finales innerhalb des Gesamtzyklus interpretiert. Die daraus abgeleiteten Modelle zyklischer Gesamtdramaturgie (Rahmenform, Finalform, anti-teleologische Konzepte, Mischformen) werden dann in einem zweiten Schritt in einer Betrachtung der ‚interpretierten Form‘ des Schlusssatzes vertieft. Anhand qualitativer Beobachtungen zu ausgewählten Interpretationen (u. a. Walter 1936, Klemperer 1966, Bernstein 1966, Horenstein 1972, Karajan 1974, Gielen 2002) werden vor dem Hintergrund des Korpus zwei gegensätzliche Dramaturgien unterschieden: Eine hält die gewählten Tempi zumindest innerhalb der einzelnen Formcharaktere (Rezitativ, Trauermarsch, Lied, „Arie“), ggf. aber auch über den gesamten Satz hinweg, verhältnismäßig stabil und vermittelt so den Eindruck eines als Referenz dienenden Haupttempos, die andere inszeniert bewusst Kontraste zwischen den und innnerhalb der Tempoebenen und zielt so auf eine formale Profilierung der komponierten Zeit. Auf dieser Basis plädiert der Beitrag für eine differenzierte historisch-analytische Einordnung einzelner Interpretationskonzepte jenseits etablierter Kategorien wie „espressivo“ oder „neusachlich“.